BRIEF AN PAULA MODERSOHN BECKER

Paula Modersohn Becker malte dieses Bild bevor sie schwanger wurde.

Paula Modersohn Becker malte dieses Bild bevor sie schwanger wurde.

Worpswede, Juni 2020

Paula, 

du hast dir selbst ein ganzes Leben gewidmet, 

ich widme dir drei Tage und diesen Brief. 

Zwanzig Tage nach der Geburt von deiner Tochter starbst du. Gibt es das unausgesprochene Gesetz, welches mein ganzes Sein fürchtet, also doch? Werden wir (Frauen!) vor die Entscheidung gestellt; Kunst oder Kind? 

Welche Schwangerschaft, welche Geburten, welche Fehlgeburten und welche Scheinschwangerschaften tragen wir nicht in uns aus? 

Ist es am Ende nicht egal was unser Leben in die Knie zwingt? Die Kunst oder die Sehnsucht nach ihrem Kind? 

Eines von Beiden wird uns gelassen zerstören, während wir Blumenkränze binden, im Innersten feiern und im Äußersten lieben; Männern helfen ihre Seelen zu finden und unsere Körper allen Geistern, Musen und Liebhabern anbieten, an uns zu vollziehen, wozu es sie drängt.  Wir wissen ja, das wir Dienerinnen des Universums sind und geben uns dem Großen und Ganzen, noch im kleinsten Detail, hin. 

Selbstportrait

Selbstportrait

Wir lassen uns ins Bodenlose fallen, in die unsagbaren Nächte unserer Kissen fallen, in die Meisterschaft des Unbewussten fallen, auf unsere Espenlaubknie fallen und beten wenn sich der Weg nicht in Sternen, Worten oder Strahlen offenbart. 

Wir wollen so gerne alles festhalten, aber wie sollen wir dann die Sterne auffangen, die in stillen Sommernächten auf uns runter regnen; und was wir gerade noch liebten und hielten lassen wir los, lassen wir unaufmerksam fallen, weil die Handflächen sich ganz von alleine öffnen und nach oben drehen, um das unaussprechliche zu empfangen. 

Oh Paula, dass es diese unermessliche Einheit mit den Universumsnächten wirklich gibt; dass sie in unseren Bäuchen statt findet, expandiert und sich zusammenzieht!

Ob wir Angst haben vor den Wehen? Nein, (-freundliches Lachen) es sind eure Ängste die wir vorspielen zu haben, um uns nicht ganz zu entfremden. Noch nicht. 

Irgendwann hören wir auf Schmerzen vorzutäuschen, weil wir dann ganz der Schmerz sind, so wie wir die Freude sind und kein Geburtskanal ängstigt uns und keine Nacht in der Gedanken, die viel größer sind als unsere Köpfe, durch uns gehen. 

Nach der Geburt ihrer Tochter

Nach der Geburt ihrer Tochter

Wir geben sogar vor den Tod zu fürchten, weil sich das so gehört - Ja, wir kommen nicht unberührt aus den letzten Jahrtausenden Erziehung hervor - während wir uns in ungezählten Nächten nach ihm sehnen, unserer Betten aufschütteln, nur für ihn. Wir sind treu - und wir wissen wer unser letzter Gemahl sein wird. Er zerstört uns nicht mehr oder weniger als ihr Männer, die ihr uns nicht meint mit eurem Jammern und Sehnen. 

Immer wollt ihr gesehen werden und es braucht mindestens zwei Augen um euren Betrug zu bestätigen. Was ihr sein wollt und wer ihr in eurem tiefsten Wesen sein könntet, wenn ihr euch aufmachtet, euch selbst zu sehen. Ja, wir können beides sehen, aber in der Diskrepanz eurer Trugbilder, verschwinden immer nur wir. 

Was uns ängstigt? Das fragst du noch. 

Nur der Stillstand. Das die Welt aufhört sich zu drehen, Ottos Netz über unsere Flügel fällt, unser Fluss gestaut wird und wir verbrennen im Schnee. 

Wir stehen auf Paula; wir nehmen die Katze auf den Arm, die Flöte in die Hand, lassen den Frühstückstisch gedeckt zurück, sagen nur Adieu zu den Lilien und dann wachsen wir in unsere eigene Dreieinigkeit und Schöpferkraft;

Mutter - Künstlerin - Frau 

Wer versteht das Wesen der Liebe ganz? Ihr Wesen. Unser Wesen. Tief. Verzeihend. Heilend. Magisch. Weisend. Vertrauend. Hingebungsvoll. 

Und fallend schöpfen wir, was uns vergaß. 

Leonie

Worpswede, 2020. Portrait by Johanna Bürger

Worpswede, 2020. Portrait by Johanna Bürger

Petra Leonie Pichler