WIE KARINS GEIST IN MEIN LEBEN KAM

Manche von euch werden die folgende Erzählung für eine erfundene Geschichte halten. Mythos oder Wirklichkeit, diese Unterscheidung ist nicht so wichtig im Theater. Jeder wählt seine eigene Realität. Ich möchte niemanden in dem folgenden Essay von einer bestimmten Wahrheit überzeugen. Ich lade euch ein, mir in meine Welt zu folgen. In Karins Welt. Ich will euch erzählen warum ich für diese Inszenierung eine neue Methode entwickelt habe, denn plötzlich griff die alte Welt nicht mehr und alles wollte sich verändern. 

Das erste Mal hörte ich von Karins Geist 2018. Die Autorin Julie May und ich waren für einen Recherche Aufenthalt in Svendborg und besuchten die Nachbarinsel Thurö, die Karin später zur Heimat wurde. Wir durften freundlicherweise ihr ehemaliges Haus am Meer TORE LORE besuchen, in welchem heute Lisbeth (Namen ändern oder fragen) mit ihrer Familie lebt. Noch während unsere Gastgeberin den Kaffee zubereitet, sagt sie, wir dürfen alles fragen was wir wissen wollen. Ich frage, ob sie die Präsenz von Karin in dem Haus noch spürt. Lisbeth schaut mich verwundert an, wird etwas blass und sagt: Lustig, dass das deine erste Frage ist. Sie glaubte nie an Geister, aber seit dem sie in diesem Haus lebt, lässt sie alle paar Monate eine hellsichtige Frau kommen, um mit Karins Geist zu kommunizieren. Am Anfang hätte sie nicht gewusst was los sei. Die Heizung machte komische Geräusche, die Elektrizität führte ein Eigenleben und merkwürdige Dinge passierten in dem Haus. Wir setzen uns gebannt mit Kaffee an den Tisch und hören weiter zu. Eine Freundin sagte ihr, dass das eine ganz klassische Geistersprache sei. Als es immer schlimmer wurde, holte Lisbeth ein Medium und trat erstmals mit Karins Geist in bewussten Kontakt. Die verstorbene Autorin, die noch immer denkt das sie in dem Haus lebt, war nicht glücklich darüber, dass man ihr altes Schreibzimmer mit Blick auf das Wasser in ein Bad für den Sohn umbauen wollte. Die hellsichtige Frau vermittelte zwischen Karin und Lisbeth und so wurden Regeln aufgestellt um das Zusammenleben erfreulicher zu gestalten.  

Mir persönlich leuchtete ihre Geschichte komplett ein und da ich selber vertraut bin mit der spirituellen Welt, wollte ich gerade vorschlagen das man eine Schamanin einladen sollte, um Karins Geist den Weg zu den Toten zu weisen, als ich plötzlich bemerkte dass eine sehr blasse Julie May links von uns saß. Sie rang um Contenance und begann zu sprechen. Sie selber hätte die folgende Geschichte niemals erzählt, aus Angst für verrückt gehalten zu werden, aber nachdem Lisbeth ihre übernatürliche Begegnung erzählt hätte, fühle sie sich in bester Gesellschaft. Und so erzählte Julie, dass sie vor zwei Wochen Geburtstag hatte und mit ein paar Freunden und Familie in einem Restaurant gefeiert hat. Mit von der Partie war eine Cousine, die ebenfalls hellsichtige Fähigkeiten hat und als Medium agiert. Während des Essens kam die besagte Cousine schüchtern auf Julie zu und sagte: Ich weiß, du glaubst nicht wirklich an diese Dinge, aber schon seit längerem sei ein Geist hier sehr präsent, der gerne mit dir reden möchte. Auf die Frage wie dieser Geist denn aussähe, erklärte die Cousine, dass es sich um eine ältere, füllige Dame handelt, die leicht schielt, viele Ringe und einen riesigen Hut trage. Julie war sofort klar, dass es sich um Karin Michaelis handelt, über die sie gerade ein Stück schrieb. Sie willigte in das Gespräch ein und fragte Karin, ob ihr das Theaterstück bisher gefallen würde und ob sie auf dem richten Weg sei. Ihre Cousine sagte, dass Karin sagte, dass Julie sich selber im Spiegel anschauen sollte, denn nur sie wisse ob das Stück gut genug sei. Außerdem rate sie der Autorin dazu mehr Whiskey zu trinken und mehr zu lachen. 

Wir sitzen alle am Kaffeetisch und werden von dem Gefühl der Ehrfurcht kurz zum Schweigen gebracht, bevor wir über Karins zweiten Satz lachen. Ja wirklich eine klassische Karin Ansage, wenn man das große Glück hatte ihr Wesen durch ihre Bücher kennenzulernen. Der Rest des Nachmittages verläuft in sehr guten Gesprächen, aber die Themen können nicht mehr die gleiche Höhe wie am Anfang erreichen. Ich persönlich bin fasziniert und begeistert. Was gerade passiert war, war ein GAME CHANGER. Plötzlich ist alles anders. Karins Geist weilt also noch unter uns und ist alles andere als scheu. Es muss einen Grund geben, der sie noch an diese Welt bindet. Eine Aufgabe die noch nicht gelöst wurde. Im Stillen beschließe ich, ihr bei dieser Aufgabe zu helfen. 

Als ich Karins Bücher und ihre Biografie las, war ich absolut in ihrem Bann. Diese wunderbare Frau aus dem vorherigen Jahrhundert war eine große Schriftstellerin, mutige Feministin, eine politisch Engagierte und stets großzügig liebende Frau. Immer wieder teilte sie ihre gesamten Besitztümer mit Familie, Freunden und Fremden, weil sie verstanden hatte, dass wir als Menschen nichts besitzen, außer unserer menschlichen Integrität. Sie wurde natürlich von den Männern und der Gesellschaft für naiv, weltfremd und dumm erklärt, weil sie die christlichen Werte lebte, statt sie nur zu predigen. Als der zweite Weltkrieg ausbrach und die dänische Regierung nicht helfen wollte, baute sie eigenständig Baracken in ihrem Garten um Geflüchtete aufzunehmen. In ihrem ganzen Leben hat sie auf ihr Innerstes vertraut und sich nicht dem zeitgeistlichen Moralvorstellungen oder Narrativ untergeordnet. Karin war auf beeindruckende Weise frei. Sie gehörte zu den Menschen, die wirklich mit dem Herzen sehen und danach handeln. Karin hatte einen inneren moralischen Kompass, der so menschlich war, dass ich ihn noch heute für komplett gültig erklären würde. 

Für meine Regiearbeit fragte ich mich, wie man diese Qualitäten auf der Bühne darstellen kann. Wir muss ein Stück aussehen, welches die Herzen des Publikums öffnet? 

Je mehr ich las und recherchierte, desto verwunderter wurde ich, dass Karin fast komplett vergessen wurde. Ihre Bücher wurden damals in mehrere Sprachen übersetzt, sie hielt Vorträge in ganz Europa, ihre Kinderbuchserie BIBI inspirierte Astrid Lindgren zu Pipi und manche Bücher wie DAS GEFÄHRLICHE ALTER sind von bahnbrechender Poesie und Aktualität. Wohin war Karins Legende verschwunden? Vom Krieg verschluckt? Von den Männern verschwiegen? 

Noch am gleichen Tag besichtigen Julie May und ich ihr zweites Haus auf Thurö, das BERGMAN HUS, welches mittlerweile in ein Kultur und Gemeindehaus mit Archiv umgebaut wurde. Im ersten Stock befindet sich eine große Mindestue (Museumszimmer) für den dänischen Autor Tom Kristensen, der nach Karin Michaelis auf die Insel zog und im gleichen Haus wie sie später leben sollte. TORE LORE. Dem Haus am Meer. Im BERGMAN HUS hat er nie gelebt, trotzdem wird ihm ein ganzes Zimmer gewidmet und ich kann meinen Augen kaum trauen, aber Karin bekommt nur den Treppenaufgang. Dort hängen Fotografien und Notizen von ihr unter den Stufen und im letzten Eck des Hauses. Dieses Abbild ist symbolisch für ganz Dänemark. Tom Kristensen ist Pflichtlektüre an den Schulen und Karin vergessen. Ich frage mich, wie ein Mann der sich in seinem Selbstmitleid fast zu Tode gesoffen hat, vergleichsweise wenig geschrieben hat und seine mächtige Stimme während zwei Weltkriegen nicht einmal für das Gute erhoben hat, sich so viel stärker in das Gedächtnis Dänemarks einbrennen konnte? Wo sind nur die Frauen hin? Wo sind sie geblieben? 

Zeitsprung. Ein Jahr später. Frühling 2019. Nun begegnet auch mir Karins Geist in einer Meditation. Ich freue mich und wir beginnen ein tiefes Gespräch. Endlich kann ich sie fragen, was sie noch immer in der Zwischenwelt gefangen hält, doch meine Frage verwirrt sie. Ich erinnere mich, dass viele Geister nicht wissen, dass sie gestorben sind. Ich formuliere die Frage um: Was möchtest du auf dieser Welt hinterlassen? Karin erzählt mir, dass sie nie Kinder bekommen konnte und sehr darunter litt. Irgendwann fing sie an ihre Bücher und Schriften wie Kinder von sich zu sehen. Jedes Buch eine Geburt. Eine neue Kreuzung im Universum. Langsam verstehe ich, dass man Karin um ihre Hinterlassenschaft betrogen hat. Weder Dänemark, noch ein andres europäisches Land hat Karin eine Mindestue errichtet. Ihre Bücher wurden nicht neu aufgelegt und alles wofür sie kämpfte wurde vergessen. Sie wurde vergessen. 

Da wird mir schlagartig bewusst, dass diese Inszenierung ein Erfolg werden muss. Ein Stück, welches die Theaterarbeit revolutioniert, damit die Menschen Karins Werke wieder lesen wollen und sie diese Welt verlassen kann. Nur wie? Wenn es ein Schema F in der Kunst gäbe, dann würde jedes Stück danach gestrickt werden. Ich wollte eine Methode finden, die Karin gerecht wird und mich herausfordert. Mir wurde klar, dass ich das Bestmöglichste Team um mich habe und eine solche eine Konstellation aus talentierten, vertrauten und offenen Menschen außergewöhnlich ist. Warum also nicht etwas neues wagen? 

Ich meditierte, ging spazieren und und dachte an vorangegangene Inszenierungen. Schon oft habe ich Schauspielern die Augen verbunden, damit sie nicht in Klischees verfallen. Ein Dialog bekommt eine ganze neue Schönheit, wenn zwei Blinde Menschen ihn sagen und dabei unsicher aufeinander zutasten und sich suchen. Unsere Augen sind sehr kritische Instrumente. Wenn zwei Schauspieler den gleichen Dialog mit offenen Augen sagen, dann analysieren sie ihr gegenüber, sich selber, blicken auf mich in der Regie oder wer auch immer im Raum ist. Sie werden von ihrem Verstand geleitet. Blind zu sein ermöglicht es in einen inneren Raum zu gehen, der verletzlich und frei zu gleich ist. Neue Gesetze greifen hier. Auch Körperliche. Zwei Menschen mit verbundenen Augen ertasten sich ganz anders. Sie entwickeln eine eigene Poesie und Sprache. Ich überlegte kurz, ob ich mit den SchaupielerInnen drei Wochen lang nur blind proben soll. Letztes Jahr ging ich selber in eine dreitägige Dunkelklausur und lernte enorm viel über mich die Kraft des Unterbewusstseins. Aber das traf es noch nicht ganz. Karin war ja nicht blind. Sie war intuitiv und vor allem, irgendwie noch da. Und dann machte plötzlich alles Sinn. Ich musste einfach einen Schritt weiter gehen und Ritual und Theater miteinander verbinden. Meine Kenntnisse aus der Schamanischen Arbeit mit meiner Theaterarbeit verflechten. Die Führung von Karins Geist anerkennen und suchen. Eine hellsichtige Frau zu einer der Proben einladen. Die Grenzen zwischen Realität und Geistern neu vermischen. Die Arbeit mit den Schauspielern sollte alle samt ihre Intuition stärken und ihren Verstand eindämmen. Es galt einer Kraft zu vertrauen, die man nicht erklären, aber erfahren kann. Ich begann die Methode BLIND MIND zu entwickeln.  

Im Juli 2019 fuhr ich zu einem internationalen Regie Treffen in Beirut und brannte. Endlich hatte ich 10 Tage Zeit meine Methode zu überdenken, auszuprobieren und mit fantastischen KollegInnen zu besprechen. Ich beschloss meinen eigenen Vortrag über Theaterarbeit kurzerhand umzuschreiben und widmete ihm dem Thema Intuition. Zum ersten Mal erzählte ich meine Geschichte unter diesem Stern stehend. Plötzlich wurden ganz andere Ereignisse prägend und wichtig. Es ging nicht mehr um Hochschulabschlüsse, Auslandsprojekte und erfolgreiche Premieren, sondern um Visionen, Wendepunkte, transformative Prozesse und Ängste. Als ich den Vortrag hielt kannte ich die anderen 17 TeilnehmerInnen erst drei Tage lang. Trotzdem setzte ich mich hin, konzentrierte mich am Tag zuvor auf jede/n Einzelne/n und schrieb auf einen Zettel, welche Worte oder Bilder intuitiv zu mir kamen. Diese Zettel überreichte ich ihnen zu Beginn und sagte, dass ich nicht wisse, warum ich was zu jedem aufgeschrieben hätte. Ich habe einfach vertraut, dass sich etwas zeigt, dass ich sehen oder wahrnehmen kann. Natürlich kann ich damit falsch liegen, aber Intuition ist eben auch beängstigend. Man bekommt Erkenntnisse und kann sie nicht erklären. Trotzdem folgt man diesen Impulsen. Im Gegenzug zu den Orakelsprüchen verlangte ich 30 Minuten ungeteilte Aufmerksamkeit. Nach 10 Minuten gab es einen Teilnehmer, der anfing auf sein Handy zu schauen. Ich ermahnte ihn zu unserem Pakt. Er verdrehte die Augen und zwei Minuten später verließ er den Saal. Den versiegelten Brief hatte er auf den Boden geworfen und nicht geöffnet. Darin stand: Wovor läufst du davon? Hoffentlich begegnet dir deine größte Angst bald, damit du sie überwinden kannst. Leider hatte er den Zettel nie gelesen. Es war auch nicht wichtig. Fast alle Teilnehmenden beriefen sich irgendwann auf meine Prophezeiungen, ihre Wahrheit und erzählten mir wie sehr sie sich erkannt oder ertappt fühlten. Das nur als kleines Beispiel wie ich persönlich lerne und lerne meinen Eingebungen zu vertrauen. Es macht mir noch manchmal Angst, aber eigentlich sind die Kunst und die Gabe der Eingebung schon immer sehr eng miteinander verknüpft gewesen. Das Regietreffen zeigte mir, dass es viele Kollegen gab die müde waren von dem Intellektuellen und Entfremdeten Theater. Die Sehnsucht nach Gefühlen und Intimität war da. Die Sehnsucht nach heiligen Räumen und ehrlichen Prozessen. 

Im August führten mich meine Reisen nach Griechenland und zu den alten Theaterstätten in Athen und Delphie. Im alten Griechenland trugen die Schauspieler Masken, um ihr Ego zu verdecken. Sie sollten Medien werden, durch welche die Götter sich offenbaren können. Wir kennen diese Momente in der Kunst. Fernab von Können und Talent gibt es manchmal diese  unerklärlichen Momente, wo wir getragen werden von einer unsichtbaren Kraft und wir müssen nur folgen. 

Diese Form von Magie will ich fortan in meiner Arbeit mit sehenden Augen erschaffen. Ich will, dass wir uns öffnen für eine höhere Führung, für Karin, für Aufstellungen, für systemische Spiele, für unsere Intuition und für unsere Herzen. Ich wünsche mir, dass wir Entscheidungen treffen, die wir nicht erklären können. Ich freue mich auf den Tag mit der Hellseherin und jedes Ritual. Ich hoffe, dass BLIND MIND uns hilft eine Sprache für die Inszenierung zu entwickeln, die von so großer, unterbewusster und transformativer Kraft ist, dass das Publikum nicht weiß wie ihm geschieht. Natürlich wird es Bedenkenträger geben, aber dass ist immer so wenn man versucht eine neue Technik einzuführen. Avantgarde zu sein wird selten vor dem Erfolg belohnt, aber das ist OK. Ich spüre ein Vertrauen in mir, dass mit jedem Tag wächst und ich will uns über diese Zweifel hinwegtragen, weil dass mein Premierengeschenk für Karin sein wird. Am Tag nach der Premiere, am 21.2.2020 möchte ich gerne mit einer Schamanin in ihr Haus gehen und ihr sagen, dass wir das jetzt im Griff haben und sie weiterziehen kann. Ich will ihr danken für ihre texte und ihr mutiges Wesen, welches mich inspiriert, ebenso angstfrei und vertrauend meinen Weg zu gehen. 

Nun bin ich am Ende meiner Geschichte. Und, wo hast du deine Grenzpfeiler zwischen Realität und Magie gesetzt? 

Petra Leonie Pichler