MITSOMMAR IN SCHWEDEN
Schweden, 24.6.2019
Während ich Henry Miller lese, wird mir klar, dass ich meinen Abschied von der Gesellschaft
vorbereite. Schon lange vorbereitet habe. Das Verlassen meiner Wohnung vor über eineinhalb
Jahren, der gekaufte Bus, das verteilen von meinen wenigen Besitztümern. In all diesen
Handlungen erkenne ich jetzt die Vorboten meines Sonnenaufganges.
Gestern ging ich durch die Wälder Schwedens, mit einem Herzen das endlich mir gehörte, durch
eine Welt, die nur Leihgabe ist. Die Bäume und Landschaften veränderten sich mit jedem Schritt.
Ich verstehe, dass meine einzige Aufgabe darin besteht diese Welt zu lieben. Meinem Leben zu
vertrauen. Mich gefügig zu machen für die Fülle der Existenz.
Und ihr? Ihr steht am Rande meiner Geschichte und schaut mir nur paralysiert zu, wie ich falle. Ins
unermessliche falle. Will mich denn keiner halten? Euer Winken wirkt so eingefroren, als starrt ihr
mich nur ungläubig an. Weil ich es tue. Weil ich entsage. Weil mein Handeln eurem Seelenwunsch
entspricht. Weil ich alle Besitztümer dieser Welt eintausche gegen die Ungewissheit einer
verborgenen Wirklichkeit. Kurz bin ich traurig, weil niemand Nein schreit. Weil niemand
einschreitet. Weil niemand sagt, bleibe doch bei uns. Keiner wirft mir einen Strohalm zu. Wisst ihr,
dass ich trotzdem gehen würde? Sucht ihr noch nach einer Sprache, die ich verstehen lernen
könnte? Oder wisst ihr eigentlich schon, dass ich gegangen bin? Das mich nichts halten kann?
Konntet ihr das wissen, noch bevor ich es wusste?
Nun, da mir nichts mir gehört, gehört mir alles. Jede Entscheidung gehört jetzt zu mir. Jede Nacht
gehört jetzt zu mir. Wie ich mein Leben lebe, ist mein Gebet. Es ist nicht mehr der Stille Dialog,
der abends, kniend vor dem Bett passiert. Mein Gebet ist mein Kaffee am Morgen. Mein
Spaziergang. Meine Meditation. Meine Geduld während ich auf das Flugzeug warte. Die Art und
Weise wie ich zuhöre. Wie ich tanze. Wie ich singe. Wie ich schreibe. Ich lebe in Versenkung und
Hingabe. Ich suche Freunde. Ich suche Lehrmeister. Ich finde sie in der Stille, in den Träumen, in
der Angst, in der Natur, im Lachen, in der Gemeinschaft und in der Einsamkeit.
Mein Leben scheint mir mit einem Male so kostbar. Meine Freiheit ist kein extrem mehr. Ganz
bedacht bewege ich meinen fragilen Körper durch ein riesiges Labyrinth von Pflanzen und
Gedanken. Ich muss nicht mehr sterben um mich zu fühlen. Ich muss nicht mehr verloren gehen,
um den Weg zu spüren. Ich muss nicht mehr frieren, um das Feuer zu schätzen. Ich gehe durch
meine Mitte und versuche das Gleichgewicht zu halten, in dem ich es erschaffe. Die Extreme die
ich lange gesucht habe waren immer da. Sie sind das Wechselspiel von Sonne und Wolken, Tag
und Nacht, Winter und Sommer, Stille und Lachen, Angst und Vertrauen, Leben und Tod.
Mein Geist wird dienbar. Einst sollten mir Wälder und Menschen ihre Liebe auf Tabletts bezeugen.
Sie mir darreichen und mir vergewissern, dass ich unter den Menschen auserwählt bin. Nun, will
ich dienen. Ich will die Fülle des Lebens feiern und den Menschen und der Natur um mich herum
Huldigungen bereiten. Verzeiht mir meinen Übermut, verzeiht mir meine Arroganz, verzeiht mir
meine Unsicherheit und verzeiht mir meinen Schmerz, denn ich Danke meinem Übermut, ich
danke meiner Arroganz, ich danke meiner Unsicherheit und ich danke meinem Schmerz, weil sie
mich lehrten was Nähe bedeutet. Kein Gefühl soll uns mehr trennen. Ich erkenne das menschliche
Herz. Ich anerkenne den Weg der vor uns liegt.
So wie die Pflanzen, will ich meine Aufgabe im Wachstum sehen. In der Verbundenheit. Im Dasein
selbst. Ringt mir keine Versprechen mehr ab. Ich kann nur noch versprechen da zu sein.
Versprechen den Wind in den Wipfeln zu sehen. Euch zu sehen. Ich danke jedem, der etwas in mir
sah, dass mir noch verborgen war. Ich will euch den gleichen Dienst erweisen. Ich will euer Licht
sehen, wenn ihr es nicht sehen könnt. Ich will alles Gute aussprechen, denn für den Zweifel haben
wir zu viele Worte gefunden. Ich weiß, dass mir das nicht immer gelingen wird. Es wird Zeiten
geben, da ich zurück in den See meiner Seele tauche, unerreichbar bin für euch und am Seegrund
mein eigenes Licht suche.
Ganz vorsichtig will ich Dinge erschaffen. Texte und Theaterstücke. Denn mit jedem Postulat
entsteht auch sein Gegenteil. Ich bin Mephisto, ich bin Faust, ich bin der Urgeist, ich bin das
Gretchen, ich bin Hamlet, ich bin Eva, ich bin Maria, ich bin Mohammed, ich bin der Schafhirte,
ich bin.
Ich bin Anfängerin in diesem neuen Leben und doch weiß ich instinktiv was zu tun ist. So muss es
Tierkindern ergehen, die ohne Umschweife ihre ersten Schritte machen. Unsere Erziehung dauert
zu lange. Alles wird uns abtrainiert und kultiviert. Wir ersetzen das Urvertrauen durch Kontrolle.
Wir ersetzen den funkelnden Kern des Menschen durch Vorhersehbarkeit. Unsere Bestimmung
scheint gefunden, noch bevor wir uns finden können. Wer soll denn unseren Platz in dieser Welt
kennen, wenn nicht wir? Alles liegt in uns begründet und es ist unsere Aufgabe die Ablagerungen
auf unserer Seele freizuschaufeln. Schicht für Schicht tragen wir die Wünsche unserer Eltern ab
und die Erwartungen der Gesellschaft. Da liegt Schnee, Vorstellungen, Asche, Sedimentschichten
von Steinen, Angst, Sand, Lügen und Lehm über uns. Aber in uns glüht ein unberührbarer Kern
von Freiheit, Liebe und Vertrauen, den wir frei legen dürfen. So beginne ich die Ausgrabung
meiner selbst, die lange Archäologie des Lebens, um am Ursprung anzukommen.